Rainer Dillen, "Portrait Hans Müller-Schnuttenbach", 1973

Fast ängstlich hält ein alter Mann mit beiden Händen eine dunkelbraune Aktenmappe fest. Skeptisch blickt er mit rotgeränderten Augen über die Brillengläser hinweg auf den Betrachter. Der schwarze Hut auf dem Kopf und der ebenfalls schwarze Mantel umhüllen ihn wie eine Schutzrüstung. Nur der lila und grün gestreifte Schal und die grauen Hemdmanschetten, die aus den Mantelärmeln herauslugen, setzen farbige Akzente.

Der lasierende Hintergrund nimmt mit seinen Grün- und Lilatönen diese Farbpalette wieder auf. Eine angedeutete Linie, die etwas über dem Kopf des Dargestellten quer durchs Bild läuft, erweckt den Eindruck eines Horizonts. Hier duckt sich einer, der aussieht wie ein kleiner Beamter, der an einem grauen, kalten Wintertag das Haus verlässt. Rechts ragt noch ein Teil eines Treppengeländers ins Bild und definiert den Raum. Dargestellt ist ein bedeutender Künstler, der Rosenheimer Maler Hans Müller-Schnuttenbach (1889 München bis 1973 Rosenheim). Gemalt hat das Porträt ein nicht minder bekannter Rosenheimer, der Maler und Grafiker Rainer Dillen.


Ab 1950 gehörte Hans Müller-Schnuttenbach, Absolvent der Königlichen Kunstgewerbeschule in München, zu den vertrauten Gestalten im Rosenheimer Stadtbild. 1944 war der Künstler in seiner Heimatstadt ausgebombt worden und in Willing bei Bad Aibling in ärmlichsten Umständen gestrandet. Nun hatte die Stadt Rosenheim mit ihm einen Vertrag geschlossen. Gegen die Überlassung von Bildern erhielt Müller-Schnuttenbach kostenfrei eine kleine Wohnung samt Zugehfrau sowie eine Leibrente.


Hans Müller-Schnuttenbach, der den Geburtsort seiner Mutter seinem Namen zugefügt hatte, war nun mit gut sechzig Jahren erstmals in gesicherten Verhältnissen. Dabei wäre das einzige Kind eines früh verstorbenen kleinen Beamten aus Waldsassen und einer Bauerstochter aus Schwaben nur zu gerne Beamter geworden. Dann hätte er sich entspannt in der Freizeit seiner geliebten Landschaftsmalerei widmen können. Doch Bewerbungen als Zeichenlehrer oder Eisenbahnbeamter scheiterten schon bei den Aufnahmeprüfungen. Nun gestaltete er eben sein Künstlerleben beamtenmäßig. Jeden Tag stand er um sechs Uhr auf, hielt viel auf Pflicht und Ordnung, lebte bescheiden und arbeitete fleißig. Stets führte er eine alte Aktenmappe mit sich. Auch der Eisenbahn blieb er treu und so sahen ihn die Rosenheimer regelmäßig auf dem Weg zum Bahnhof, von wo er, ausgestattet mit einer Dauerfahrkarte, zum Broteinkauf nach München oder zu Malausflügen bis nach Passau oder Crailsheim fuhr.


Genau so hat Rainer Dillen den Künstler porträtiert. Gerade steht er noch im Treppenhaus, gleich wird er zum Bahnhof gehen. Die Aktenmappe hält er ganz fest. Hierin sind seine Skizzenblöcke und Zeichnungen. Die gibt er nicht freiwillig her. Verkaufen wollte Müller-Schnuttenbach eigentlich nie eines seiner Bilder. Sie waren für ihn, der nie eine eigene Familie hatte, seine Kinder.
Rainer Dillen kannte den Kollegen schon lange, nicht nur als Aussteller im Rosenheimer Kunstverein, sondern auch über seinen Vater, den holländischen Maler Peter Martinus Dillen (1890 Helmond bis 1985 Kolbermoor). Seit 1960 wirkt Rainer Dillen als freischaffender Maler und Grafiker in Rosenheim. In diesen frühen Jahren standen großformatige Porträts im Zentrum seines Schaffens und das Bildnis von Hans Müller-Schnuttenbach 1973 sollte eines der letzten in dieser Reihe werden. Dann wandte sich Rainer Dillen, der 1968 den erstmalig verliehenen Kulturförderpreis der Stadt Rosenheim erhalten hatte, der abstrakten Figuration zu, doch immer mit dem Thema "der Mensch in seinem Schicksal" im Mittelpunkt.


Rainer Dillen suchte also Anfang des Jahres 1973 Hans Müller-Schnuttenbach an einem Spätnachmittag im Altenheim St. Martin in der Erlenau auf, wo dieser damals schon lebte. Auf die Frage, ob er ihn porträtieren dürfe, meinte der stets bescheidene Maler nur "oh mei, oh mei". Dillen fertigte eine Reihe von Zeichnungen, und nebenbei wurde Müller-Schnuttenbach das Abendessen gereicht, was nicht weiter störte. Während der Sitzung und dem Essen schlief Müller-Schnuttenbach immer wieder ein. Er war schon sehr schwach und starb dann auch im November diesen Jahres mit 84 Jahren. Es war bereits dunkel, als Dillen das Heim verlassen wollte. Alle Bewohner waren zur Nachtruhe im Bett und die Haustüre verschlossen. Nur mit Mühe fand der 34-jährige Porträtist eine Schwester, die ihn heraus ließ.


Als Dillen sich in seinem Atelier an das Bild machte, brauchte er weder die Skizzen, noch Müller-Schnuttenbach selbst, so vertraut war ihm die kleine Gestalt mit dem skeptischen Blick. Lange schon hatte er sich mit dem Plan getragen, den schrullig wirkenden alten Künstler zu malen. So entstand ein Porträt, das treffender nicht sein könnte. In der Jahresausstellung des Kunstvereins Rosenheim wurde das Werk im Sommer 1973 der Öffentlichkeit präsentiert und fand sofort Aufmerksamkeit. Als Hans Müller-Schnuttenbach erfuhr, dass sein Konterfeit in der Städtischen Galerie zu besichtigen sei, stöhnte er "ja um Gottes Willen".


Die Stadt Rosenheim kaufte das Porträt aus dieser Ausstellung heraus an und bewies damit ein gutes Auge für Rainer Dillen als herausragenden Porträtisten und Hans Müller-Schnuttenbach als feinsinnigen Landschaftsmaler. Für Rainer Dillen markiert das Bild Höhe- und Schlusspunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Porträt.


Dr. Evelyn Frick


Städtische Galerie Rosenheim, Depot. Inventarnummer 1536; Aquatec (Künstleracrylfarbe) auf Leinwand; Entstehungsjahr 1973; Signatur links oben "R. Dillen 73"; Höhe 110 Zentimeter, Breite 84 Zentimeter; aus der Jahresausstellung des Kunstvereins Rosenheim in der Städtischen Galerie angekauft am 10. Juli 1973.

Herzlichen Dank an Rainer Dillen für das ausführliche Gespräch über die Hintergründe zur Entstehung des Bildes.

Literatur: Müller-Schnuttenbach. Ein bayerischer Landschaftsmaler. Rosenheim 1988. Evelyn Frick: Rede anlässlich der Eröffnung der Sonderausstellung "Hans Müller-Schnuttenbach" im Rahmen der Ausstellung der Galerie Gailer, Städtische Galerie Rosenheim, 5. November 2009. (Unter Verwendung von Material aus dem Stadtarchiv Rosenheim). Rainer Dillen. Retrospektive, Bilder - Gouachen - Grafik, 1959 - 1989. Städtische Galerie Rosenheim 1989.

 

Rainer Dillen, "Portrait Hans Müller-Schnuttenbach", Acryl auf Leinwand, 1973 © Städtische Galerie Rosenheim

Rainer Dillen, "Portrait Hans Müller-Schnuttenbach", Acryl auf Leinwand, 1973 © Städtische Galerie Rosenheim