Michael Rohde, "anne", 2011

Irritiert blickt man in ein Zimmer. Eine Fotografie offensichtlich. Doch man sieht das Zimmer mit seinen beiden Fenstern und Türen, dem Bett, den Tischen und Regalen nicht aus der gewohnten Perspektive. Man sieht es von unten. Der Fussboden erscheint wie eine dicke Glasplatte unter der man sich befindet und direkt nach oben in den Raum blickt. Die Zentralperspektive der alten Meister ist noch da, beruhigend. Doch der Fluchtpunkt liegt an der Zimmerdecke, beunruhigend. Was ist hier passiert? Was hat der Fotograf gemacht? Hat er ein Zimmer über einem Glasboden als künstlerische Installation aufgebaut und dann von unten fotografiert? Oh nein. Das Zimmer gibt es wirklich und seine Besitzerin heißt Anne.

Der Fotokünstler Michael H. Rohde, von dem dieser ungewöhnliche Einblick stammt, kam über Umwege zur Kunst. Nach einer Lehre als Maschinenschlosser bei Gütersloh (1977-1980) studierte der gebürtige Westfale Maschinenbau an der FH Bielefeld (1982-1987) und arbeitete nach dem Abschluss sieben Jahre als Ingenieur. Doch irgendwie war's das nicht.

An der FH Ottersberg bei Bremen konnte Rohde dann von 1995-1998 ein Studium der Kunsttherapie und der Kunstpädagogik sowie 1999-2000 der Freien Bildenden Kunst bei Professor Hermanus Westendorp absolvieren. Ein zweijähriges Aufbaustudium (2001-2002) an der Hochschule für bildende Kunst Hamburg als Meisterschüler bei Professor Bernhard Johannes Blume ergänzte seine künstlerische Ausbildung. War Westendorp der Malerei zugeneigt, so widmete sich Blume, bekannt zusammen mit seiner Frau als Duo "Anna und Bernhard Blume", der Fotografie und inszenierte in großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien kleinbürgerliche Lebenswelten mit einem ironischen Augenzwinkern.

Bei Blume hatte Rohde den richtigen Lehrer gefunden. Fotografie, das war genau sein Ding. So fotografierte Rohde ab 2000 triste Gebäude und Hinterhöfe, aber noch aus gewohnter Perspektive. Ab 2003, in diesem Jahr zog der Fotokünstler nach Bernau nördlich von Berlin, hielt seine Kamera vollkommen verdreckte, vermüllte, nicht bewohnbare Räume in Ruinengebäuden fest. Unter dem Arbeitsthema "Bewußtwerden durch Wahrnehmung im Innen" erweiterte Rohde mit diesen digital bearbeiteten Großformataufnahmen seine eigenen Perspektiven.

2009 musste der Künstler fünf Monate als Obdachloser leben. "Resultierend aus mehreren Ablehnungen Berliner Behörden, eine Wohnung in Berlin zu mieten", wie er dazu ausführt. Seine prekären Schlafstellen dokumentierte Rohde mit "own bedroom", einem absolut ruinösen WC-Raum in einem Abbruchhaus, "notbett bei Mark", einem klaustrophobischen Lager zwischen Aktenschränken, oder "the bedroom of the republic", als total vermülltes, verdrecktes Zimmer. Gemeinsam ist diesen Arbeiten der Serie "INSIDE" ein Kamerablick von oben. Der Betrachter schwebt hoch oben über den Räumen und hat freien Blick auf das Dreckelend unten. "Ich bekam keine Wohnung zu jener Zeit, fühlte mich beobachtet und allein gelassen." Der Blick von oben als der Blick von Kontrolle und Macht.

Aus dieser harten Erfahrung entwickelte Rohde, der seither in der Buttmannstraße 16 in Berlin-Gesundbrunnen wohnt und arbeitet, sein neues Thema "BELOW" und eröffnete es ab 2010 mit der Serie "private". Die Perspektive hatte sich gedreht. Rohde wollte wieder die Kontrolle haben, deshalb blickt die Kamera nun von unten, wie durch einen Glasboden, in die Räume. Das kann, da es sich um Privaträume handelt, durchaus etwas Voyeuristisches haben, wie bei "ophelia", die auf der Toilette sitzend vom Fotografen "erwischt" wird.

Wir sehen also im aktuell in der Städtischen Galerie Rosenheim ausgestellten Fotowerk in das sehr penibel aufgeräumte Zimmer von Anne und überlegen uns, wer sie sein könnte. Vielleicht eine Studentin? Das gut sortierte Bücherregal könnte darauf hinweisen. Sie bewohnt nur dieses eine Zimmer, in dem sich Wohnen, Schlafen und Arbeiten abspielen. Sie ist wohl Single, denn hier steht nur ein Einzelbett. Hat eine junge Frau so altmodische Raffgardinen? Oder gehören sie zur Ausstattung des Zimmers, wie das Mobiliar, und der Vermieter untersagt das Entfernen? Das Kopfkino hat freie Fahrt.

Was wir hier als Blick durch einen Glasboden wahrnehmen, komponiert Rohde aus hunderten von Einzelaufnahmen mit Photoshop. Jedes Objekt fotografiert er einzeln, bearbeitet es und platziert es dann in der Innenansicht, die er gesondert aufgenommen hat. "Schränke legt er auf die Seite, und wenn er eine Duschwanne nicht ausbauen kann, fotografiert er eine im Baumarkt. Am Computer bringt er die Komponenten auf Linie, verzerrt hier, staucht dort, passt Farben und Schatten an - am Ende sind keine Übergänge mehr zu sehen.", erläutert Jan Oberländer. Rohde sieht sich als Maler, nicht als Fotograf, auch wenn er keinen Pinsel in die Hand nimmt. So wie ein Maler aus den einzelnen Farben ein Bild komponiert, so komponiert der Berliner aus den digital bearbeiteten Fotos. Der Fotokünstler verändert nicht die Dinge, sondern unseren Blick auf sie.

Seit 2014 beschäftigt sich Rohde mit "historical rooms" und zeigt ungewöhnliche Einblicke in die Wohnräume von Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Friedrich Schiller, Berthold Brecht oder Albert Einstein.

Mittlerweile gehört Michael Hermann Rohde zu den etablierten Künstlern, der seine Werke auf zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen präsentieren kann und vielfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. Auch der Kunstverein Rosenheim widmete ihm 2016 eine Einzelausstellung für seine "New Perspectives". Doch Vorsicht. Rohde liebt hintersinnige, ironische Anspielungen. So versteckt er manchmal ein Objekt in seinen Fotoarbeiten, das sicher nicht in diesen Raum gehört. Vielleicht entdecken Sie etwas bei "anne". Und wer seine Vita liest und annimmt, dass er 2017 auf der documenta 14 in Kassel war, der irrt. Er war schon auf der documenta, aber einer Parallelveranstaltung zum Original, und in Kassel war das auch, aber in dem Ortsteil Kassel von Biebergemünd in Südhessen. Also, glauben Sie nicht gleich alles, was Sie lesen oder auf den Fotos sehen.

Dr. Evelyn Frick

 

Städtische Galerie Rosenheim, Depot. Inventarnummer 4807; pigmentierter Ink-Jet-Print auf Alu-Dibond, Edition 2011, Auflage 80 Exemplare, 2011; keine Signatur; Höhe 70 Zentimeter, Breite 100 Zentimeter; Ankauf 2016 aus der Jahresausstellung des Kunstvereins Rosenheim 3. Juli - 7. August 2016.

Literatur: Homepage von Michael H. Rohde (https://www.michael-h-rohde.de/, Aufruf 13.11.2018). Jan Oberländer: "Berliner Fotokunst. Die Welt von unten". Tagesspiegel 09.03.2012. (https://www.tagesspiegel.de/kultur/berliner-fotokunst-die-welt-von-unten/6304162.html, Aufruf 13.11.2018). Kunstverein Rosenheim, Kunst aktuell 2016, Sonderausstellung Jerry Zeniuk: Katalog zur Jahresausstellung des Kunstvereins Rosenheim, Abbildung "anne" S. 51, Bericht zur Einzelausstellung "Michael H. Rohde - New Perspectives in Rosenheim" S. 94 und 95. Rosenheim 2016

Michael Rohde "anne", 2011 © Städtische Galerie Rosenheim

Michael Rohde "anne", 2011 © Städtische Galerie Rosenheim